Gähwil – aus Wasser und Geist
Land und Volk – Erbe der Grafen von Toggenburg
Gähwil war im 13. und 14. Jahrhundert Herrschaftssitz der Grafen von Toggenburg und damit eigentlicher Hauptort eines Feudalreiches, das vom Wallis bis ins österreichische Burgenland, vom deutschen Ulm bis ins italienische Friaul Ländereien umfasste. Die stolze Toggenburg stand auf dem Iddaberg, nur wenige Spuren sind davon übriggeblieben. Aus dem ursprünglichen toggenburgischen Burgdorf ‘Gainwyl’ ist heute ein idyllisches Dorf in einer sanften Mulde des Toggenburger Hügellandes geworden. Die rund 800 Gähwilerinnen und Gähwiler mögen zwar immer noch stolz sein auf ihre gräfliche Vergangenheit, fühlen sich aber keineswegs mehr als geknechtete Untertanen, sondern sind ein frei denkendes demokratisches Völklein geworden.
Demokratie – aus dem Wasser geboren
Wasser ist in Gähwil reichlich vorhanden, und doch gab die Versorgung und Verteilung des köstlichen Nasses immer wieder Anlass zu Verhandlungen, auch zu Streitereien um Quell-, Leitungs- und Brunnenrechte. Insbesondere die Hausbesitzer im Dorf sahen sich gezwungen, die Wassernutzung rechtlich klar zu regeln. So entstand, wie in vielen anderen Dörfern, eine Dorfkorporation, welche die Einwohner mit Trink- und Löschwasser versorgte. Diese Wasserkorporation war die erste demokratische dörfliche Vereinigung. Bald kümmerte sie sich ganz allgemein um alle dörflichen Anliegen. Diese Wasserkorporation ist somit der Ursprung unserer dörflichen Kultur und unseres politischen Gemeinwesens.
Kirche – historische Autorität
Kirche und Staat waren im Mittelalter die beiden Säulen der Welt. Bis heute hat die Kirche in Gähwil eine grosse Bedeutung bewahrt, nicht nur als religiöse Autorität, sondern ebenso als Bewahrerin der kulturellen und gesellschaftlichen Tradition. Noch heute trifft man sich nach dem Gottesdienst zu einem Schwatz mit anderen Dörflern, und die jährliche Kirchbürgerversammlung ist ein willkommener Fokus von allerlei Dorfangelegenheiten.
Schule – aus dem Geist der Revolution
1789 ist nicht nur das Jahr der Französischen Revolution, sondern auch das Gründungsjahr der ersten Freischule in Gähwil. Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig. Auch in Gähwil wurde der Ruf nach liberté, égalité und fraternité mit gespitzten Ohren aufgenommen. Da und dort im Toggenburg schlossen sich die Familienväter zu Schulgenossenschaften zusammen. In Kirchberg hatte gar schon ein Jahrhundert vorher, im Jahr 1691, der besonders demokratisch gesinnte Pfarrer Fliegauf eine erste gemeinsame Schule für seine drei Pfarrkreise Kirchberg, Bazenheid und Gähwil gegründet. Für die wenigen Gähwiler Kinder, welche diese Pfarrschule besuchen durften, war der tägliche Fussweg nach Kirchberg allzu beschwerlich. Der Gähwiler Dörflerstolz trug das Seine dazu bei, dass der Ruf nach einer eigenen Schule nach dem Kirchberger Vorbild immer lauter wurde. Diese Dorfschule sollte der neuen Kirchgemeinde Gähwil unterstellt werden.
Vorerst blieb die Schule Gähwil ein Traum. Die Gähwiler Schulkinder gingen noch ein halbes Jahrhundert lang den Weg nach Kirchberg, ihre Väter aber bezahlten den Schulbatzen immer liederlicher nach Kirchberg. In aller Heimlichkeit wurde in Gähwil 1748 ein Schulfonds angelegt, und die geschuldeten Schulbatzen flossen anstatt nach Kirchberg heimlich, aber umso reichlicher, in den Gähwiler Schulfonds. Genau beim Ausbruch der französischen Revolution 1789 reichte das Geld zur Einführung der Freischule Gähwil.
Selbstverständlich billigte Kirchberg und auch die
st. gallische Erziehungskommission unsere Gähwiler Schule nicht. Der erste Lehrer, der Bauer Konrad Bannwart vom Seeli, konnte zwar wohl lesen, schreiben und rechnen, entsprach aber durchaus nicht dem damaligen Bild eines Pädagogen, und er erfüllte keineswegs die kirchlichen Anforderungen. Unterrichtet wurde anfänglich nur in den Wintermonaten. Bald war Konrad Bannwarts Bauernstube (im heutigen Haus der Familie Brändle, Seeli) zu klein für die Kinderschar, und man musste in zwei Gruppen abwechselnd unterrichten, vormittags die älteren, nachmittags die jüngeren Kinder.
Allen Verboten und Mahnungen zum Trotz unterrichtete man in Gähwil widerrechtlich eine stets steigende Kinderzahl. Es ist noch heute beeindruckend, wie sehr sich der demokratische Kerngedanke der Französischen Revolution in einem abseits gelegenen Dorf wie Gähwil ausbreiten und entwickeln konnte. Aus der Bürgerschaft, nicht aus der Obrigkeit, stammte die Initiative und die politische Kraft für die Durchsetzung einer revolutionären Idee.
Schmerzlich traf es die Gähwiler, als 1984 die damalige Realschule aufgehoben werden musste. Die zu kleine Schülerzahl verunmöglichte einen zeitgemässen Unterricht auf dieser anspruchsvollen Stufe. Die Oberstufenschüler empfanden dies wohl anders: Stolz erwarteten sie den Übertritt in eine ‚höhere‘ Schule, und die Fahrt ins Nachbardorf Kirchberg war für sie eher ein spannender Blick in eine grössere Welt.
Ende 2016 verlor die kleine Schulgemeinde Gähwil ihre vor 200 Jahren mühsam erkämpfte Eigenständigkeit wieder, sie löste sich freiwillig auf und wurde in die politische Einheitsgemeinde Kirchberg inkorporiert. Die Schule Gähwil und ihr Kindergarten bleiben aber erhalten und werden weiterhin auf modernstem Niveau weitergeführt.
Freizeit – Leben im Dorf
Über 500 Gähwilerinnen und Gähwiler beteiligen sich eifrig in über 30 Vereinen und Institutionen – ein klarer Beweis für das grosse Interesse unserer Bevölkerung am gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Leben. Solche Anliegen werden seit 2015 vom jungen Dorfverein ‘Gähwil vereint’ wahrgenommen. In Gähwil lebt man nicht nur in den eigenen vier Wänden und im privaten Gärtchen, sondern beteiligt sich gern am öffentlichen Leben.
Zukunft – mit einem starken Gewerbe
Bis ins 18. Jahrhundert war Gähwil ein fast reines Bauerndorf. Jede Familie versorgte sich selber aus dem eigenen landwirtschaftlichen Kleinstbetrieb. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam das textile Heimwerk als willkommene Ergänzung dazu, und etwa um 1900 ratterte in fast jedem Gähwiler Haus auch noch ein Webstuhl oder eine Handstickmaschine. Um 1910 rüstete man die Stickereien auf Schifflistickmaschinen um, insbesondere im Dorf selber entstanden auch die ersten Stickereifabriken. Dieser Wandel zog auch eine Ausweitung des örtlichen Gewerbes nach sich, man rief nach Schreinern, Elektrikern, Schmieden, Maurern. Aus der landwirtschaftlichen Selbstversorgung ist über die Stickerei das heutige starke Gewerbe gewachsen. Mehr und mehr folgten auch Dienstleistungsbetriebe. In etwa 40 kleinen und mittelgrossen Firmen bietet Gähwil heute rund 120 zukunftsträchtige Arbeitsplätze an.